Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahre 2013

Bericht über die Tagung
„Der Teutsche Michel. Kulturpatriotismus und Sprachverhalten im Werk Grimmelshausens und in der oberrheinischen Literatur der Frühen Neuzeit“

20.–22. Juni 2013 in Oberkirch und Renchen

Die Grimmelshausen-Gesellschaft veranstaltete vom 20. bis zum 22. Juni 2013 in Oberkirch und Renchen eine Tagung zum Thema „Der Teutsche Michel. Kulturpatriotismus und Sprachverhalten im Werk Grimmelshausens und in der oberrheinischen Literatur der Frühen Neuzeit“. Nach einem Grußwort von Hermann Brüstle, Leiter des Haupt- und Kulturamtes der Stadt Oberkirch, wurde die Tagung vom Präsidenten der Grimmelshausen-Gesellschaft eröffnet.

Das reichhaltige Vortragsprogramm begann mit einem Referat von Jürgen Macha (Münster), der sich sprachlichen Konfessionalismen in der Frühen Neuzeit zuwandte und interessante Zusammenhänge von Konfession und Sprache darstellte. Dieter Breuer (Aachen) ging Grimmelshausens Ansichten vom „allergottsbesten Teutsch“ (Teutscher Michel, Cap. XI) nach und brachte den „simplicianischen“ Sprachstil in Verbindung mit der „Teutschen Bewegung“. Dabei wurde Grimmelshausens Position in der zeitgenössischen kultur- und sprachkritischen Debatte verdeutlicht. Sebastian Rosenberger (Heidelberg) untersuchte Grimmelshausens Werk und seine Vernetzungen – vorgestellt als „Autordiskurs“ – vor dem Hintergrund des sprachpatriotischen Diskurses der Epoche. Im Mittelpunkt stand als Beispiel der Topos vom „Turmbau zu Babel“ und seine Bedeutung und Funktion in der sprachpolitischen Auseinandersetzung. Der Frage „Wie ,teutsch‘ ist der Teutsche Michel?“ ging Timothy Sodmann (Südlohn) nach. Ins Zentrum seiner sprachhistorischen Überlegungen rückte der Wortschatz des Traktats, der in den posthumen Werkausgaben Grimmelshausens in sprachlich und inhaltlich mehrfach bearbeiteter Form Aufnahme fand. Peter Hess (Austin) beleuchtete den Teutschen Michel als Leseanleitung für den Simplicissimus-Roman. Leitende Fragestellungen waren darüber hinaus Sprachbewußtsein, Spracherwerb und Sprachfähigkeit, Mehrsprachigkeit und ethisches Sprechen, sprachliche Fehlleistungen und Zusammenhänge von Sprache mit Phänomenen wie Selbsterkenntnis und Identität. Zur Diskussion gestellt wurde die Hypothese, daß das im Teutschen Michel beschriebene sprachliche Fehlverhalten dem transgressiven Sprechen und Verhalten des Hauptprotagonisten um Simplicissimus entspreche. Gezeigt wurde auch die wichtige Rolle, die transgressive Kleidung im Traktat und im Roman haben. Simon Zeisberg (Berlin) widmete sich dem Thema Pluralität und Ordnung im Teutschen Michel. Dabei konnten durch das Ordnungsmodell des Gartens und die Gartengespräche des Simplicissimus anregende Perspektiven auf das Werk gewonnen werden. Diskutiert wurde, ob der Sprachtraktat bei der satirischen Beobachtung fremder Wissensansprüche stehen bleibt oder ein implizites, simplicianisches Sprachwissen formiert.

Für den fulminanten Abschluß des ersten Konferenztages sorgte eine Projektgruppe unter Leitung von Ekkehard Wallat mit einer Theateraufführung im „s’Freche hus“ zu Oberkirch. Man präsentierte: „,Wo der Bärenhäuter seine Haut gelassen‘. Der erste Beernhäuter von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen in einer szenischen Bearbeitung“. Das Stück wurde von Ekkehard Wallat eigens für die Grimmelshausen-Tagung 2013 geschrieben und inszeniert. Das Publikum dankte ihm und seinem Ensemble – Karl Schnurr, Andreas Blassmann, Bernd Hechler, Marina Haupt, Marina Gonzalez, Nadine Schmidt und Dennis Sommerau – für die vergnügliche Unterhaltung durch eine furiose Aufführung mit lang anhaltendem Applaus.

Am zweiten Konferenztag waren die Tagungsteilnehmer im Simplicissimus-Haus in Renchen zu Gast, wo sie Bernd Siefermann, Bürgermeister der Stadt Renchen, begrüßte. Zunächst referierte Dirk Niefanger (Erlangen-Nürnberg) über Johann Rists Rettung der Edlen Teutschen Haupt-Sprache in unterschiedenen Briefen (Hamburg 1642) und seine Spuren im Teutschen Michel. Gemeinsamkeiten und Differenzen im sprachpatriotischen Diskurs zwischen Rist und Grimmelshausen wurden herausgearbeitet. Thomas Althaus (Bremen) stellte Aspekte der „Umdeutungskunst“ des Aegidius Albertinus in der Perspektive auf den simplicianischen Erzähler dar, wobei er sich insbesondere mit einigen Emblemen aus dem Hirnschleiffer und ihren Implikationen befasste. In den Blick geriet auch das für Grimmelshausens Werk relevante Konzept der Selbsterkenntnis. Die Aktualität des Teutschen Michel in der Zeit zwischen 1810 und 1864 untersuchte Jakob Koeman (Maartensdijk). Die Rezeptionsstudie konzentrierte sich auf in der Grimmelshausenforschung teilweise nicht beachtete Texte von Joseph von Eichendorff, Theodor Echtermeyer, Wilhelm Arthur Passow, Karl Rosenkranz und Heinrich Kurz. Nicolas Detering (Freiburg i. Br.) stellte Ergebnisse einer Untersuchung über die Europa-Semantik im Simplicissimus Teutsch vor und hinterfragte Europabewußtsein, Europaabsage, Nationalpatriotismus und kontinentale Identität nach den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges.

Am Nachmittag führte die Grimmelshausen-Gesellschaft eine Busexkursion in die elsässische Kleinstadt Molsheim durch, die ca. 30 Kilometer westlich von Straßburg liegt. Es ist erst seit wenigen Jahren bekannt, daß der Ort mit Grimmelshausen in Verbindung zu bringen ist. Klaus-Dieter Herbst (Jena) machte 2008 erstmals auf den von ihm entdeckten dritten Jahrgang 1675 eines bis dahin unbekannten simplicianischen Kalenders, verlegt und gedruckt von Johann Heinrich Straubhaar in Molsheim, aufmerksam. Mit Straubhaar tauchte in der Grimmelshausenphilologie unversehens ein vorher nie genannter Verleger und Drucker auf. In Molsheim standen eine Stadt- und Museumsführung auf dem Programm. Louis Schlaefli führte durch das Stadtmuseum in der ehemaligen Kartause, zeigte die alte Jesuitenkirche (St. Georg- und Dreifaltigkeitskirche), das ehemalige Stadtschloß und die Altstadt. Der Dank der Exkursionsteilnehmer galt ihm für seine kenntnisreichen und sachkundigen Erläuterungen, die keine Frage offen ließen.

Den dritten Konferenztag eröffnete Sylvia Brockstieger (Freiburg i. Br.), die über Facetten des Sprach- und Kulturpatriotismus im Straßburger Kreis um Johann Fischart sprach. Ein Schwerpunkt lag auf Mathias Holtzwart, Johann Fischart und Bernhard Jobin und der Profilierung der Emblematik aus dem Geist des Kulturpatriotismus. Klaus Haberkamm (Münster) würdigte Georg Rodolf Weckherlin als Anwalt von „reichtumb vnd schönheit“ der deutschen Sprache und überraschte, indem er die bisher übersehenen ironischen Bezüge in manchen Sonetten herausstellte und damit neues Licht auf die Opitz-Rezeption des Autors warf, der sich zunehmend von seinem einstigen „Lehrmeister“ distanzierte. Rosmarie Zeller (Basel) machte die Sprachtheorien Harsdörffers, Schottels und Zesens und den Vorrang der deutschen Sprache in der Sprachdiskussion des 17. Jahrhunderts zum Gegenstand ihres Vortrags. Sie skizzierte in diesem Kontext auch die Besonderheit der Position Grimmelshausens im Sprachdiskurs. Johann Heinrich Schills Der Teutschen Sprache Ehren-Krantz (1644) galt das Interesse von Dieter Martin (Freiburg i. Br.), der den Text als Quelle für Grimmelshausen analysierte und in seinem Beitrag sprachtheoretische Auffassungen von Mitgliedern der Straßburger Tannengesellschaft berücksichtigte. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) gab einen Überblick über Positionen und Formen des affektiven Patriotismus bei Zincgref, Rompler und Grimmelshausen. Dabei gerieten neben Rompler mit seinem Gedicht „Das Rásend Teütschland“ (1634) auch weitere Mitglieder der Straßburger Tannengesellschaft und ihr reichsstädtischer Sympathisantenkreis in den Fokus. Michael Hanstein (Heidelberg) befasste sich mit dem Germanenmythos im frühneuzeitlichen Straßburg und untersuchte Funktionen des ästhetischen Atavismus bei Caspar Brülow und Johann Michael Moscherosch.

Nach der Mitgliederversammlung beendete ein gemeinsamer Abschiedsschmaus im „Silbernen Stern“ zu Gaisbach eine Tagung, die neue Erkenntnisse zum Teutschen Michel und zum kultur- und sprachpatriotischen Diskurs des 17. Jahrhunderts erbrachte. 

Peter Heßelmann (Münster)