Tagung 2023

 „Orthodoxie/Heterodoxie – Diskurspolitiken der Rechtgläubigkeit in der (Literatur der) Frühen Neuzeit“

15.–17. Juni 2023 in Würzburg

 

Begriffe haben ihre Geschichte. Jedoch hat auch die Geschichte ihre Begriffe. Den Wahrnehmungsmustern und Vorstellungswelten vergangener Zeiten entstammend, können solche Begriffe noch heute die historische Forschung strukturieren, wenn sie zu wissenschaftssprachlichen Kategorien gerinnen. Mittels ihrer wird die Vergangenheit dann interessengeleitet in Epochen und Strömungen gegliedert, wobei ihnen rasch der Anschein größtmöglicher Distanz und Objektivität zukommt.

Ein prominentes Beispiel für das Fortleben von zeitgenössischen Begriffen in der Forschung, das aus dem Feld der Kirchen- und Theologiegeschichte stammt, ist die historiographische Kategorie „Orthodoxie“: Zu den Merkmalen dieses Begriffs – eine Leitidee, mittels deren spannungsreich verarbeitete und institutionell stabilisierende religiöse Geltungsansprüche artikuliert wurden – gehört die geschichtliche Umstrittenheit im Zuge inhaltlicher Konstruktionen und institutioneller Durchsetzung. Der konfliktträchtige Konstruktionscharakter von „Orthodoxie“ im In- und Miteinander von Differenzsetzungs- und Identitätsstiftungsleistungen spiegelt sich in seiner Eigenschaft, Bestandteil eines Duals asymmetrischer Gegenbegriffe zu sein (Koselleck 102017; im Anschluss daran: Junge/Postoutenko 2011). Damit ist besagt, dass die Kennzeichnung der eigenen religiösen Position oder Handlungseinheit als „orthodox“ unweigerlich die Markierung fremder, lehrmäßig oder institutionell divergenter Positionen oder Handlungseinheiten als „heterodox“ mit sich bringt. Es handelt sich also um einen Dualismus, „der die Gegenposition nicht nur negiert, sondern ausschließt und aufzuheben sucht“ (Koselleck 2017, 243). Sprachfiguren wie diese machen daher „eine wechselseitige Anerkennung unmöglich, sie grenzen aus, diskriminieren und zielen im Extremfall auf die physische Vernichtung der Gegenseite“ (Müller/Schmieder 2016, 316).

Gleichzeitig gehören Absetzbewegungen von der ‚Orthodoxie‘ ebenfalls zum Repertoire theologischer Diskurspolitik. Bestimmte theologische Positionen lassen sich anscheinend erst oder zumindest besonders aufmerksamkeitsintensiv aus einem Raum jenseits des so genannten Orthodoxen und durch die damit verbundene Absatzbewegung formulieren, publizieren und vermarkten.

Es ist nun keineswegs so, dass nur die frühneuzeitliche Theologie mit dem genannten asymmetrischen Begriffspaar arbeitet. Auch die Literatur des Barock zeichnet sich in verschiedener Hinsicht durch die literarische Adaptation der genannten asymmetrischen Gedankenfiguren aus, und dies in allen drei Konfessionen. Felder der Auseinandersetzung stellen in diesem Zusammenhang die Theologie des Paracelsus und der paracelsischen Schule, frühneuzeitliche Adaptationen der mittelalterlichen Mystik, vor allem aber die Frömmigkeitsbewegung und der Pietismus dar, zumal diese ja, wie schon Max Weber in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus gezeigt hat, eine hohe Form von Durchlässigkeiten zwischen den Konfessionen ermöglicht.

Die Tagung will dem Phänomen der Aneignung von und Auseinandersetzung mit asymmetrischen Selbst- und Fremdmarkierungen in Bezug auf die Rechtgläubigkeit in Literatur und Theologie der Frühen Neuzeit in dreifacher Hinsicht nachgehen:

Erstens sollen die theologischen Debatten der Zeit im Hinblick auf den Einsatz der genannten Gedankenfigur in allen drei Konfessionen untersucht werden. Im Mittelpunkt stehen hier die Identifizierung der jeweiligen positionellen Interessen, aber auch der Deutungswandel im Laufe der Zeit. Klassische kontroverstheologische Felder der konfessionellen Auseinandersetzung lassen sich dabei genauso in den Blick nehmen wie beispielsweise die werdende Kirchengeschichtsschreibung mit ihren kategorialen Instrumentarien.

Zweitens sind literarische Texte auf den Einsatz dieser Gedankenfiguren hin zu befragen. Hierbei soll ein Augenmerk auf die Entwicklung der Begriffs-Dichotomie im Feld des Literarischen gelegt werden: Wie verändert sich z. B. in der satirischen Literatur bei Moscherosch und Grimmelshausen oder in der theologischen bei Czepko, Scheffler und Kuhlmann das Verfahren von Ein- und Ausschluss, das die Begriffe Orthodoxie und Heterodoxie beschreiben? Kann von einer strengen Fortsetzung der genannten Diskurspolitik, nur eben mit den Mitteln der Literatur, ausgegangen werden oder lässt sich eine freiere, vielleicht sogar spielerische Umwertung der asymmetrischen Wertungen beobachten?

Drittens soll die Theologie- und Literaturgeschichte selbst im Hinblick auf den Einsatz der benannten Begriffe auf den Prüfstand gestellt werden. Da die asymmetrische Begriffsdichotomie Orthodox/Heterodox auf vielfältige Weise in die theologie- und literarhistorische Forschung überführt wurde (z. B. Wallmann 1995; Laufhütte/Titzmann 2006; Michel/Straßberger 2009; Salatowsky/Schröder 2016; Breul 2021), ist nach den Implikationen dieser Übernahme zu fragen. Wird nämlich aus diesen Begriffen abgeleitet, dass sich eine klar zu umreißende Gestalt der vormodernen Theologie erzeugen ließe, von der dann – um ein Beispiel aus der lutherischen Kirche zu geben – der „Pietismus“ oder die „Aufklärung“ abzugrenzen seien, dann ist damit die Gefahr verbunden, den historischen Gegenstand der Untersuchung ungesehen in die eigenen Analyseinstrumente zu überführen und ihn selbst so zu verfehlen. Im Gegenzug wäre über Terminologien zu diskutieren, die den genannten Diskurspolitiken historisch gerecht werden, ohne ihnen zu verfallen.

Diesen und anderen Fragen soll im interdisziplinären Gespräch nachgegangen werden.

Die Tagung wird vom 15.–17.06.2023 im Kloster Bronnbach bei Würzburg stattfinden.

Organisation: Christian V. Witt (Mainz), Maximilian Bergengruen (Karlsruhe), in Verbindung mit der Grimmelshausen-Gesellschaft.



Literatur

 

  • Wolfgang Breul, Thomas Hahn-Bruckart (Hg.), Pietismus-Handbuch, Tübingen 2021
  • Kay Junge, Kirill Postoutenko (Hg.), Asymmetrical Concepts after Reinhart Koselleck. Historical Semantics and Beyond, Bielefeld 2011
  • Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 102017, 211–259
  • Hartmut Laufhütte, Michael Titzmann, Heterodoxie in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006
  • Stefan Michel, Andres Straßberger (Hg.), Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699), Leipzig 2009
  • Ernst Müller, Falko Schmieder, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, 316
  • Sascha Salatowsky, Winfried Schröder (Hg.), Duldung religiöser Vielfalt – Sorge um die wahre Religion. Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2016
  • Johannes Wallmann, Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock (Gesammelte Aufsätze 1), Tübingen 1995