Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahr 2023
„Orthodoxie – Heterodoxie. Diskurspolitiken der Rechtgläubigkeit in der (Literatur der) Frühen Neuzeit“,
15.–17. Juni 2023 in Würzburg
Nach einem Grußwort von Wolfgang Riedel, Leiter des Schelling-Forums Würzburg, führten Maximilian Bergengruen (Würzburg) und Christian Volkmar Witt (Tübingen), die Organisatoren der Tagung, in das Tagungsthema „Orthodoxie – Heterodoxie. Diskurspolitiken der Rechtgläubigkeit in der (Literatur der) Frühen Neuzeit“ ein. Den ersten Vortrag hielt Eric Achermann (Münster), der Bedeutung und Funktion von certitudo (Glaubens- und Heilsgewissheit) und fortitudo (Stärke gegenüber Anfechtungen) als Handlungsdispositionen in spanischen Pícaro-Romanen und bei Grimmelshausen erläuterte. Auf der Folie frühneuzeitlicher Theologie und Philosophie erschienen die Phänomene der pikaresken Ironie und Satire im Umgang mit Weltverachtung und -abkehr in neuem Licht. Christian Volkmar Witt (Tübingen) setzte sich mit der – wie er es nannte – „Erfindung der altbösen Orthodoxie“ auseinander und stellte dabei Überlegungen zur Historiographie dieser zumeist pejorativ genutzten und untauglichen Kategorie an. Dargelegt wurde die Entwicklung des religiös-konventionell affirmativ angeeigneten Begriffs Orthodoxie hin zur abwertenden historiographischen Kategorie im Umkreis der lutherischen Kirchen- und Theologiegeschichtsschreibung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und darüber hinaus zur wissenschaftssprachlich genutzten Kategorie. Die aufschlussreichen Zusammenhänge von Poetik und Konfession unter den Rahmenbedingungen der lutherischen Reformorthodoxie in der Freien Reichsstadt Nürnberg – insbesondere in den Werken von Harsdörffer, Klaj und Birken – verfolgte Julius Thelen (Göttingen). Der literarische Diskurs in Nürnberg sei einerseits gekennzeichnet durch die Ambiguität des Dualismus Orthodoxie – Heterodoxie, andererseits sei eine ,Vereindeutigung‘ der Literatur zu erkennen, das heißt eine Funktionalisierung im Sinne einer christlichen Moralisierung. Johann Conrad Dippels radikalpietistischer Kirchenkritik und seinen antiorthodoxen Streitschriften widmete sich Vera Faßhauer (Frankfurt a. M.), die ausging von einem polemischen Disput, der zwischen Anhängern lutherischer Orthodoxie und heterodoxen Widersachern geführt wurde. Anlass der Auseinandersetzung waren die 1732 in der Gemeinde Wohlen bei Bern verbreiteten Ansichten eines Laienpredigers namens Thommet, auf die in einem anonym erschienenen „Lied zum Bären-Tantz“ reagiert wurde, als dessen Verfasser Faßhauer mit hoher Wahrscheinlichkeit Samuel Lupichi ermitteln konnte. Vertreter der Orthodoxie nutzten die Gelegenheit, um gegen sogenannte Spiritualisten, Theosophen und Pietisten zu polemisieren, die als Ketzer gebrandmarkt wurden. Vor dem zeitgenössischen theologiegeschichtlichen Hintergrund fragte Dieter Breuer (Aachen) nach dem religiösen ,Kern‘ der Werke Grimmelshausens. Er hob hervor, dass die vom simplicianischen Erzähler vertretenen Standpunkte seiner Frömmigkeit in die Traditionen des Augustinismus und des Jansenismus einzuordnen seien. Als Vermittler jansenistischer Anschauungen kämen insbesondere Mönche im Prämonstratenserkloster Allerheiligen, gelegen in der Nähe von Grimmelshausens Wirkungsstätten Oberkirch-Gaisbach und Renchen, in Betracht.
Den zweiten Tagungstag eröffnete Barbara Mahlmann-Bauer (Bern) mit einem Vortrag, in dessen Mittelpunkt die in Gottfried Arnolds Unpartheyischer Kirchen- und Ketzer-Historie (1699–1700) dargelegten Unterscheidungsmerkmale von Orthodoxie und Heterodoxie standen. Eingangs stellte Mahlmann-Bauer fest, dass die von Simplicius aus seinem Lebenslauf gezogenen Lehren und die an der Bibel und Natur orientierte Frömmigkeit des Einsiedels und des Inseleremiten bereits dem Frömmigkeitsideal ähneln, das Arnold dreißig Jahre nach Erscheinen des Simplicissimus Teutsch am Beispiel der Non-Konformisten und Dissidenten aufzeigt, die wegen ihres Glaubens von Vertretern der Amtskirche verfolgt wurden. Um Arnolds Umwertung des Begriffspaars „Orthodoxie–Ketzerey“ und seine Inspirationsquellen – herangezogen wurden wahrscheinlich Prätexte von Sebastian Castellio und David Joris – ging es im Folgenden. Arnolds Positivierung des Ketzervorwurfs und seine Abwertung der Rechtgläubigkeit seien Resultate eines Prozesses, der mit der Gründung protestantischer Kirchen begann. Arnold gebrauchte die Begriffe ,orthodoxia‘ und ,orthodox‘ nurmehr aus skeptischer Distanz und im Misstrauen gegenüber der lutherischen und überhaupt jeglicher Amtskirche. Anhand von Beispielen aus der lutherischen und katholischen Kirchenhistoriographie des 17. Jahrhunderts untersuchte Steffi Schmidt (Osnabrück) Konstruktionen von Heterodoxie. Es wurde ansichtig, auf welche Weise der Streit um Orthodoxie und Heterodoxie in der Geschichtsschreibung geführt wurde. Der Rekurs auf das reformatorische Täufertum erfüllte im 17. Jahrhundert sowohl im katholischen als auch im lutherischen Bereich häufig die Funktion, Andersgläubige als Häretiker zu brandmarken. Bei den katholischen Autoren werde sichtbar, dass sie in einer langen Tradition des Ketzermachens stehen, wenn sie etwa den alten Gedanken der Pluralität als Kennzeichen von Häresie im Gegensatz zur Einheit der Orthodoxie prononcierten. Klaus Haberkamm (Münster) ging zunächst der Druckgeschichte von Spee von Langenfelds Traktat gegen die Hexenverfolgung (1631) und dem in den Drucken signifikant modifizierten Titelblatt nach, bevor er den Orthodoxie-Begriff des Verfassers erörterte. Auffällig ist, dass die Verfasserangabe in der sogenannten Zweitausgabe des Erstdrucks variiert wurde: An die Stelle des „Theologus Romanus“ trat der „Theologus Orthod(oxus)“. Haberkamm deutet das neue Attribut „orthodoxus“ als vom Autor beabsichtigte Steigerung der Semantik des vorherigen Adjektivs „romanus“ im Sinne von „römisch-katholisch“. Es handele sich dabei um eine Herausforderung seiner Gegner: Spee betone unter dem Druck der Anschuldigungen zum Zweck des Selbstschutzes seine Rechtgläubigkeit, verstärke so das Gewicht seiner Argumentation in der Cautio criminalis und unterstreiche sein Selbstverständnis als Vertreter des rechten Glaubens. Die Modifizierung der Formulierung auf dem Titelblatt habe eine programmatische Funktion und erlange eine heuristisch-hermeneutische Qualität. Spees anfängliche Versicherung im Bewusstsein der Brisanz seiner Schrift, römisch-katholischer Theologe, also Rechtgläubiger, zu sein, reichte offenbar nicht aus, ihn vor schwerwiegenden Konsequenzen zu bewahren. Das sei – so Haberkamm – seine begründete Befürchtung gewesen, da er vorübergehend mit dem Ausschluss aus der Societas Jesu und mit der Inquisition bedroht war. In der dritten Ausgabe des Traktats, einer Titelauflage des Originals, kehrte Spee zur Verfasserangabe der Erstausgabe zurück: „Incerto Theologo Romano“. Der Autor, der sich zunächst mit seinen Feinden, den als Orthodoxe geltenden Klerikalen, zu identifizieren versucht hatte, wollte sich nun mit diesen nicht länger gemein machen, zumal die Bedrohung durch Gegner nachließ. Katholische Orthodoxie- und Heterodoxiekonstruktionen im 17. Jahrhundert vor dem Hintergrund des Streits um den Jansenismus standen im Zentrum der Ausführungen von Klaus Unterburger (München). So sehr Jansenismus im Katholizismus lange als Prototyp von Häresie und Heterodoxie galt, hat die Forschungsgeschichte dies inzwischen relativiert oder gar destruiert. Unterburger skizzierte zunächst das frühe Selbstverständnis von Jansenius als Erneuerer der orthodoxen Gnadenlehre gegen heterodoxe Aufweichungen. Dann beschrieb er die Konstruktion des Jansenismus als Häresie von der Denunziation des Augustinus bis zur römischen Verurteilung der fünf Propositionen (1653). Abgerundet wurde der Vortrag durch einen Blick auf das Selbstverständnis jansenistischer Schriftsteller – Pascal und Racine – nach diesem Verdikt. Wilhelm Kühlmann (Mannheim) befasste sich mit der Theologie der Dreifaltigkeit in der Lyrik von Gryphius, Rist, von Birken und Spee. Deren lyrische Trinitätsdichtung interpretierte und verglich er vor theologischem und theologiegeschichtlichem Hintergrund und arbeitete Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Autoren heraus. Hans-Joachim Jakob (Siegen) wandte sich der Relevanz des Sirachbuchs und literarischer Prätexte in Harsdörffers Erzählsammlung Heracljtus und Democrjtus (1652–1653) zu. Bezeichnend für Harsdöffers Bearbeitung seiner von katholischen und protestantischen Autoren stammenden Quellentexte sei, dass er konfessionspolemische und kontroverse Stellen ausgelassen oder entschärft habe und sich in seinen Kompilationen als toleranter Protestant präsentiere. Dem Buch Sirach entnahm Harsdörffer – wie Jakob nachwies – zahlreiche Epimythien, welche die Historien komplettieren. Die geistliche Lyrik Henriette Catharina von Gersdorffs nahm Franz Fromholzer (Augsburg) in Augenschein. In der Forschung wird das Werk der Autorin einerseits der lutherischen Orthodoxie zugeordnet, andererseits als heterodox in die Frühgeschichte des Pietismus implementiert. Fromholzers Interpretationen mehrerer Gedichte belegen, dass eine klare Zuordnung des Werkes zu den Polen Orthodoxie und Heterodoxie nicht möglich ist. Im Anschluss an den letzten Vortrag des Tages nahmen zahlreiche Tagungsteilnehmer an einem Stadtrundgang teil.
Am dritten Tag des Symposiums beleuchtete Daniela Fuhrmann (Zürich) unter dem Schlagwort der ,Schein-Heiligkeit‘ Aspekte der Dependenz und Emanzipation von der Religion als kulturellem Leitsystem bei Grimmelshausen. Dabei gerieten ambivalent anmutende Verhaltensmodi von Simplicissimus und Courasche in den Blick; beide Figuren wurden als ,Schein-Heilige‘ gedeutet. Fuhrmann fragte, ob die sogenannte niedere Literatur, die ihrem Credo nach „jedermänniglich“ und „der gantzen Welt“ „nutzlich“ sein wollte, auch beabsichtigte, als unterhaltsam-literarischer Diskurs eine eigene ideologische Ambition geltend zu machen, die sich neben die Religion stellt oder diese als nicht-wissenschaftliches Denksystem zur Erfassung der Welt vielleicht sogar abzulösen in der Lage sei. Demnach standen in dem Vortrag weniger heterodoxe Phänomene religiöser Abweichung, d. h. innersystemische Ausdifferenzierungsprozesse und -probleme sowie deren Diffamierung als Irrlehren, im Brennpunkt. Vielmehr wurde – in Abgrenzung zu einem Großteil der Grimmelshausen-Forschung, die an der Frömmigkeitsdidaxe gerade des Simplicissimus Teutsch festhält, – die ,ketzerische‘ Frage nach der Abweichung von der christlichen Religion gestellt – von der Religion als dominantem kulturellem Leitsystem, das Selbst-, Fremd- und Weltdeutung bestimmt. In dieser Perspektive regen die simplicianischen Schein-Heiligen dazu an, so Fuhrmann, die vordergründig von den Texten vollzogene Auseinandersetzung mit der christlichen Religion auch als eine Kunst- und nicht primär als eine Glaubensdiskussion zu begreifen. Christopher Voigt-Goy (Mainz) vermochte die Konstruktionen des ,englischen Deismus‘ und der ,Freigeisterei‘ in der deutschen protestantischen Theologie des 18. Jahrhunderts zu erhellen. Seine Ausführungen boten einen Überblick über die Geschichte der genannten Begriffe und die Rezeption der beiden Bewegungen. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts setzte im deutschen Protestantismus – so Voigt-Goy – eine „Neukalibrierung“ in der Konstruktion des ,Atheismus‘ ein. Es dauerte etwas, bis man sich im theologischen Diskurs sicher war, dass es sich bei den von englischen Autoren verfassten Schriften um einen ,Deismus‘ handele, der nicht den altbekannten ,Atheismus‘, sondern die ,Freigeisterei‘ befeuere. Diese Entwicklung wurde so gut wie gar nicht durch die argumentativ-inhaltliche Auseinandersetzung mit den als ,englische Deisten‘, ,Freidenker‘ und ,Freigeister‘ Inkriminierten provoziert. Vielmehr handelte es sich um einen Prozess, der in kommunikationstheoretischer bzw. wissenssoziologischer Hinsicht als „framing“ begriffen werden kann. Im Weiteren stellte Voigt-Goy Aspekte dar, die zur Veränderung der überkommenen ,Atheismus‘-Konstruktion führten.
Peter Heßelmann (Münster)