Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahr 2021
„Satirisches Schreiben bei Grimmelshausen
und in der Literatur der Frühen Neuzeit“
09.–11. September 2021 in Gelnhausen
Nach einem Grußwort von Daniel Christian Glöckner, Bürgermeister der Stadt Gelnhausen, wurde die Tagung vom Präsidenten der Grimmelshausen-Gesellschaft eröffnet. Zunächst stellte der Grafiker, Zeichner, Illustrator und Karikaturist Klaus Puth (Mühlheim) seinen im Tagungsraum der Kulturherberge Gelnhausen ausgestellten Zyklus mit Zeichnungen zum Simplicissimus Teutsch vor.
Die wissenschaftlichen Vorträge eröffnete Eric Achermann (Münster), der sich mit dem Thema „Der heimliche Zeuge. Menippos als Schelm – Zur Verrechtlichung satirischen Schreibens“ befasste. Ausgehend von der Behandlung der Menippea in der Antike und in frühneuzeitlichen Poetiken konnte er zeigen, dass die dort versuchten Differenzierungen der Gattung von Satirikern immer wieder ,aufgebrochen‘ und vermischt wurden. Die menippeische Satire erscheine als frühneuzeitliches Konstrukt aus einer Zusammenfügung textsortenspezifisch differenzierter, insbesondere rechtlicher Dokumente und verrechtlichter Beglaubigungsverfahren, so dass eine hybride Gattung entstehe. Vornehmlich sei es die rechtlich-politische Intervention, welche die menippeische Satire zur Waffe werden ließ. Nützlichkeit und Durchschlagskraft erhalte dieses Lächerliche durch die Parodie von Beglaubigungsverfahren, indem sie sich die Ambiguität von Zeugenaussagen und ihrer Glaubwürdigkeit zu eigen mache. Vor dieser Folie analysierte Achermann am Schluss Elemente der menippeischen Satire in den ersten Kapiteln von Grimmelshausens Continuatio. Christian Meierhofer (Bonn) setzte sich mit Verfahren des Satirischen in Grimmelshausens Satyrischem Pilgram auseinander. Er legte dar, dass das Objekt des satirischen Angriffs nicht allein jenseits des Schreibaktes liege, sondern satirisches Schreiben könne sich auch selbst attackieren. Im Satyrischen Pilgram mache sich das in einer multiperspektivischen, polyphonen Darstellung und zuallererst in dem dreigliedrigen Einleitungsteil bemerkbar, den Meierhofer im Hinblick auf seine begriffs- und einige seiner literaturhistorischen Bezugspunkte im 16. und 17. Jahrhundert analysierte. Am Text könne exemplarisch gezeigt werden, welche Verfahrensoptionen des Satirischen barocke Prosa jenseits normpoetischer Vorgaben für sich nutzen kann. Zudem lasse sich erkennen, dass satirisches Schreiben gegenwartsaffin und gegenwartsdiagnostisch ist, weil es Zustände der eigenen Zeit benennt, lobt und kritisiert. Christian Loos (Münster) rief die in der Grimmelshausen-Forschung geführte Realismus-Debatte in Erinnerung, in der es darum ging, Grimmelshausens Wirklichkeitserschließung und -schilderung näher zu bestimmen, und stellte vor diesem Hintergrund Überlegungen zur satirischen Schreibart der simplicianischen Narrativik an. Dabei rekapitulierte er kritisch in der Diskussion vorgetragenen Positionen und skizzierte Gemeinsamkeiten, Differenzen und Möglichkeiten einer Synthese unterschiedlicher Standpunkte. Im Mittelpunkt des Vortrags von Peter Heßelmann (Münster) stand ein Roman, der – obwohl nicht vom simplicianischen Autor stammend – in die sog. posthumen Gesamtausgaben seiner Werke Eingang fand: Der Fliegende Wandersmann nach dem Mond (1659). Heßelmann rückte den Text in die Tradition der lukianischen Satire und der literarischen Mond- und Planetenreisen und interpretierte ihn als unterhaltsame Mischung aus lehrreichem Sachbuch, spannendem Abenteuer-, Pikaro- und Reiseroman, Satire, Zukunftsvision und Utopie.
Zu Beginn des zweiten Tagungstages ging Ludger Jorißen (Wiesbaden) Satire, Kaustik und Kalauern in Johann Fischarts Bienenkorb (1579) nach. Konstituierend für diesen aus dem Niederländischen stammenden Text sei sein Sprach- bzw. Wortwitz, für den Jorißen zahlreiche erhellende Beispiele anführte. Auch ironische Elemente sowie die kalauernde Verdrehung von Namen und Wortspiele konnten als Spezifika der Satire Fischarts verdeutlicht werden. Dem Autor komme nach Jorißen das Verdienst zu, den isidorianischen Stil mit seiner Herleitung von Etymologien aus Reimen im Deutschen verbreitet zu haben. Dirk Werle (Heidelberg) wandte sich Johann Valentin Andreaes Menippus zu und zeigte, dass Andreae in den Jahren um 1620 mit mehreren literarischen Darstellungsformen und Genres experimentierte, um seine Ideen zu fixieren und zu verbreiten. Menippus erscheint als platonische Dialogsammlung, in der satirische, utopische, komödienhafte und enzyklopädische Elemente verbunden werden, und als Text, der zwischen fabula und historia changiert und auf einem alternativen Weg die Wahrheit vermitteln möchte. Werle stellte dar, wie sich das Wechselverhältnis von Satire und Utopie gestaltet und wie sich die Form der Prosasatire in Dialogform innerhalb eines Gattungsspektrums situiert, das durch die Spannung zwischen fabula und historia charakterisiert ist und damit eine wichtige Position innerhalb der Entwicklungsgeschichte fiktionalen Erzählens sowie des Konzepts der Fiktionalität markiert. Unter dem Titel „Paranesisch, Bacchisch und Satyrisches Gemüß” referierte Klaus Haberkamm (Münster) über Georg Rudolf Weckherlins Ode als „satura“ und würdigte den Autor als Satiriker. Die satirische Kritik des Gedichts ziele vornehmlich auf das Laster der gula und die Sprachmengerei im Zeitalter des A-la-mode-Wesens. Darüber hinaus thematisiere die Ode die vanitas des Menschen, der durch Verfehlungen sein Seelenheil riskiere. In seiner luziden Interpretation gelang es Haberkamm, die mehrdimensionale „bacchische“ Ode nicht nur als „Satyre“ zu begreifen, sondern auch als Paränese, als moralische Ermahnung und Aufruf zum Gebet, solle doch der Leser von Gott Gnade für alle erbitten. Nicola Kaminski (Bochum) stellte ihren Vortrag unter die Leitfrage „Nichts als Handwerkersatire?“ und analysierte die gattungspoetologische Rolle der Knittelverse in Absurda Comica. Oder Herr Peter Squentz. Sie bot eine originelle Lesart der Komödie, in der sie den in der Forschung unisono formulierten satirischen Zweck der angeblich in der Tradition von Hans Sachs stehenden Knittelverse bezweifelte und die Aufmerksamkeit auf die Verse selbst und die Signifikanz ihrer Faktur lenkte. Die Satire richte sich vielmehr als Sprachsatire nicht gegen Handwerker oder Sachs, sondern gegen die Opitzsche Dichtungsreform, welche die Gattung der Komödie und ihre adäquate Sprache nahezu völlig übergangen hatte.
Am dritten Tagungstag steuerte Hans-Joachim Jakob (Siegen) das Interesse auf die wenig beachteten Satiren Veriphantors Buhlende Jungfer (1665) und Veriphantors Jungferlicher Zeit-Vertreiber (1665) von Johann Gorgias und lotete ihr satirisches Potential aus. Er rückte sie in die für sie bezeichnende Satiretradition und machte mit den Titelbildern, Erzählstrukturen und misogynen Inhalten der Texte unter Einbeziehung des Todsünden-Narrativs vertraut. Gegenstand der Überlegungen von Emma Louise Brucklacher (Bern) waren Johann Beers misogyne Frauensatiren Weiber-Hächel (1680), Jungfer-Hobel (1681), Bestia Civitatis (1681) und Der politische Feuermäuer-Kehrer (1682), in denen ,weibliche‘ Laster entlarvt werden. Sie beleuchtete die satirische Struktur der zeitgenössisch beliebten Frauensatiren und verdeutlichte, wie darin auf pikarische Erzählstrukturen zurückgegriffen wird. Ausgehend von einem Überblick über die Tradition und Programmatik der Frauensatire wurden topische Elemente und Darstellungsmodi skizziert. Dieter Martin (Freiburg i. Br.) rückte Christian Reuters Letztes Denck- und Ehren-Mahl der weyland gewesenen Ehrlichen Frau Schlampampe (1697) in den Gattungskontext von Pasquill, Satire und Parodie. Er konnte zeigen, wie Reuter versuchte, die Grenzen satirischer ,Kunstfreiheit‘ im Gattungsdenken des späten 17. Jahrhunderts auszuloten. Dabei ging es exemplarisch auch darum, die Limitierungen der frühneuzeitlichen Satire mit Hilfe zeitgenössischer juristischer Argumente zu erörtern. Ausgehend von einer Rekapitulation der Vorgänge, die in Reuters Denck- und Ehren-Mahl und seiner Relegation von der Leipziger Universität gipfelten, vergegenwärtigte Martin den für die Satire relevanten juristischen Diskurs der Zeit. Es schlossen sich Überlegungen zu den Fragen an, wie sich Reuters Fall vor diesem Hintergrund darstellt und ob sich für das Denck- und Ehren-Mahl der ,Parodie‘-Begriff als Alternative zu ,Satire‘ oder ,Pasquill‘ anbietet.
Zum Rahmenprogramm gehörten eine Führung durch die Altstadt von Gelnhausen, ein Rundgang durch das Museum Gelnhausen und die „Grimmelshausenwelt“ und ein Konzert in der ehemaligen Synagoge, in der sich das „ensemble_kupido“ weltlicher Vokalmusik des 17. Jahrhunderts widmete. Auf dem Programm mit dem Titel „Thorheiten meiner Leffelei“ standen Werke von Johann Hermann Schein, Johann Erasmus Kindermann, Constantin Christian Dedekind, Federico Coda, Andreas Hammerschmidt, Hans Leo Haßler und Giovanni Valentini. Zwischen den musikalischen Darbietungen wurden Texte aus Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch vorgetragen.
Peter Heßelmann (Münster)