Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen
Gesellschaft e.V.

Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahr 2019

Tagung

"Politik im Werk Grimmelshausens
und in der Literatur der Frühen Neuzeit",

27. – 29. Juni 2019 in Oberkirch und Renchen

Den Eröffnungsvortrag hielt Michael Stolleis (Frankfurt a. M.), der sich insbesondere Grimmelshausens Ratio Status widmete und – ausgehend von einer Interpretation des Titelkupfers – den Text in die Tradition frühneuzeitlicher Staatsräson-Traktate stellte. Auffällig sei, dass der simplicianische Erzähler hier auf satirische Elemente verzichte und sich die Argumentation nicht auf dem aktuellen Stand des politischen Diskurses um 1670 bewege, sondern an längst überholte staatstheoretische Positionen des 16. Jahrhunderts anknüpfe und nichts Neues biete. Gleiches gelte für die Kritik am sogenannten Machiavellismus. Auch in dieser Hinsicht werde der zeitgemäße Diskussionsstand nicht erkennbar rezipiert. Thomas Simon (Wien) befasste sich mit zwei Grundbegriffen politischen Denkens im 17. Jahrhundert: Tranquillitas reipublicae und Conservatio status spielten in der Staatsrechtsdiskussion eine wichtige Rolle. Grimmelshausen sei in seinen politischen Anschauungen den Regimentstraktaten und Fürstenspiegeln des 16. Jahrhundert verhaftet und von der neueren, vornehmlich von Italien ausgehenden Staatsräsonliteratur unberührt geblieben. Wolfgang E. J. Weber (Augsburg) ging den Bedeutungen der Begriffe „Staatsräson“ und „Selbsterhaltung“ nach und beleuchtete vor diesem Hintergrund die „andere Staatsräson“, nämlich das Phänomen der individuellen und kollektiven Statusmaximierung am Beispiel der soziokulturellen Pamphletistik des 17. Jahrhunderts. Grimmelshausen und die der Sozialdisziplinierung dienenden Regelungen der Gaisbacher Policey-Ordnung (1651) standen im Zentrum des Vortrags von Peter Heßelmann (Münster). Diese Policey-Ordnung biete – so wurde ausgeführt – einen Einblick in den Versuch der Familie Schauenburg, ihre Adelsherrschaft in einem bäuerlich geprägten Mikrokosmos durch Implementation von Policeynormen zu stabilisieren. Grimmelshausen nahm als Schaffner die Verwaltung im Dorf und Tal Gaisbach wahr und leistete seinen Beitrag dazu, die in den Jahrzehnten des Krieges in Mitleidenschaft gezogene Ordnung, die Besitzverhältnisse und die Rechtssicherheit in dem Herrschaftsgebiet wiederherzustellen.

Der zweite Tagungstag, der die Tagungsteilnehmer in Renchen zusammenführte, begann mit einem Vortrag von Dieter Breuer (Aachen), der den historischen Roman Dietwalt und Amelinde in den Mittelpunkt rückte, Grimmelshausens Historie vom Aufstieg Frankreichs zur europäischen Großmacht analysierte und – unter Berücksichtigung des dualen ratio-status-Begriffs – in ihren politischen Kontext und Gegenwartsbezug stellte. Der machiavellistisch orientierten Kriegspolitik Frankreichs werde das vorbildliche politische Verhalten Dietwalts gegenübergestellt, der im Sinne der „guten“ ratio status im Vertrauen auf die Providentia Dei handele. Eric Achermann (Münster) lenkte das Interesse zunächst auf Fragen der Arkanpolitik in Píkaroromanen und in staatstheoretischer Literatur der Frühen Neuzeit. In diesem Zusammenhang erläuterte er die Relevanz der wichtigen Begriffe occasio und contritio bei Machiavelli, in der Emblematik und bei Grimmelshausen. Die Darstellung der sich im Konflikt mit der „guten“ Policey befindlichen Soldaten, Landstreicher und anderen Vaganten im simplicianischen Werk untersuchte Christian Loos (Münster). Die von Grimmelshausen als Quelle genutzte Politsatire Henry Nevilles von der Isle of Pines und die Insel-Episode in der Continuatio waren Gegenstand des Vortrags von Thomas Borgstedt (München). Er verdeutlichte realpolitische zeitgeschichtliche Bezüge des satirischen Prätextes und dessen Bedeutung für den simplicianischen Autor sowie seine Kontrafaktur, in der nur die moralisch-anthropologische Dimension des Experiments, nicht die politisch brisante Dimension aufgegriffen werde. Antonia Müller-Laackman (Münster) beschäftigte sich mit der merkantilistischen Judenpolitik und konzentrierte sich dabei auf das Motiv des „Geldjuden“ im Rathstübel Plutonis und Vogel-Nest II. Sie zeigte, dass Grimmelshausen in diesen Texten durchaus politische Aspekte in den Blick genommen habe, wurden Juden doch für die kameralistische Wirtschaftspolitik genutzt. Dabei habe Grimmelshausen keine Kritik am zeitgenössischen Antisemitismus geübt. Robert Schütze (Bochum) verfolgte in seinem Vortrag mit dem Titel „U-Topik. Rhetorik des Politischen bei Morus und Grimmelshausen“ in den Texten beider Autoren Sprechakte, in denen sich Utopisches zeige, und setzte sich mit Bedeutung und Funktion der Utopien auseinander. Nach den Vorträgen des zweiten Tages fuhren die Tagungsteilnehmer nach Gengenbach, wo sie an einer Führung durch die ehemalige Reichsstadt teilnahmen.

Am dritten Tag wandte sich Cornel Zwierlein (Bamberg) den mediterranen Referenzen im Werk Grimmelshausens und insbesondere der Darstellung des Osmanischen Reichs und dem Nebeneinander von Unrechtssphären und Rechtsordnungen in der Continuatio zu. Es wurde klar, dass Grimmelshausen für seine Darstellungen auf Reiseberichte und aktuelle Zeitungsnachrichten zurückgegriffen hat. Michael Hanstein (Ditzingen) nahm die Problematik der Staatsräson, wie sie sich auf Kathedra und Bühne der Straßburger Akademie zeigte, in den Blick. Matthias Bernegger und Caspar Brülow waren Exponenten, die sich mit der „Verstellungskunst“ (simulatio / dissimulatio) als Machtstrategie in der Rezeption von Tacitus und Machiavelli kritisch auseinandersetzten. Das Zusammenwirken von Emblematik und Politik veranschaulichte Hans-Joachim Jakob (Siegen) anhand von Daniel Meisners und Eberhard Kiesers Thesaurus Philopoliticus oder Politisches Schatzkästlein. Es gelang ihm, die im Emblembuch gegenwärtigen politischen Implikationen herauszuarbeiten. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) interpretierte politische Porträtlyrik im Dreißigjährigen Krieg am Beispiel des Elegienzyklus’ Pictura loquens von Balthasar Venator. In der bisher noch fragmentarischen Geschichte der politischen Literatur des 17. Jahrhunderts beweise Venators lateinischer Porträtzyklus eine – wie Kühlmann darlegte – unvergleichliche Konzeption und Dimension. Klaus Haberkamm (Münster) stellte die Frage, inwiefern es sich bei Weckherlins Gedichten auf König Gustav II. Adolf von Schweden um politische Propaganda handelte. Waren Weckherlins politische Gedichte durchaus als politische Texte intendiert, so sei er mit dieser Zielsetzung jedoch gescheitert. Wie Haberkamm hervorhob, kann von einem realpolitischen Einfluss der Lyrik nicht die Rede sein. Der letzte Vortrag der Tagung machte mit Johann Balthasar Schupps Salomo oder Regenten-Spiegel vertraut, dessen Intention Dieter Martin (Freiburg) zwischen biblischer Orientierung und lebensweltlicher Erfahrung ansiedelte. Der Text dürfe als in seiner Zeit charakteristischer Beitrag zum politischen Diskurs gelten. In ihm lehne sich Schupp an Modelle der Reihenpredigt, des Bibelkommentars sowie des Gesprächsspiels an und schöpfe das Spektrum moralisierenden Schreibens von direkter Sittenpredigt bis hin zur Fiktion der Traumsatire aus, um vorzuführen, wie sich lebensweltliche Erfahrung mit den Herrschaftspraktiken der Höfe an normbildende und exempelliefernde biblische Texte anschließen lassen und wie sich umgekehrt durch Bibelexegese ein auf die Gegenwart beziehbarer Exempelvorrat finden lasse.

Nach der Mitgliederversammlung der Grimmelshausen-Gesellschaft fand mit dem traditionellen Abschiedsschmaus im „Silbernen Stern“ zu Gaisbach eine ergebnisreiche Tagung zum Thema Politik im Werk Grimmelshausen und in der frühneuzeitlichen Literatur ihr Ende.

Peter Heßelmann (Münster)