Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen
Gesellschaft e.V.

Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahre 2016

Tagung
"Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens
und in der Literatur der Frühen Neuzeit"

23.–25. Juni 2016 in Oberkirch und Renchen

Die Grimmelshausen-Gesellschaft veranstaltete vom 23. bis zum 25. Juni 2016 in Oberkirch und Renchen eine interdisziplinär orientierte Tagung zum Thema „Schuld und Sühne im Werk Grimmelshausens und in der Literatur der Frühen Neuzeit“. Nach einem Grußwort von Matthias Braun, Oberbürgermeister der Stadt Oberkirch, wurde die Tagung vom Präsidenten der Grimmelshausen-Gesellschaft eröffnet.

Der Vortragsreigen begann mit Dirk Niefanger (Erlangen), der sich der Darstellung von Scham- und Schuldgefühlen in Grimmelshausens Simplicissimus widmete. Den theoretischen Hintergrund seiner Interpretation von ,Schamgeschichten‘ im Roman bildete die von Norbert Elias entwickelte sozio- und psychogenetisch ausgerichtete Theorie über den Prozess der Zivilisation sowie die daran geübte Kritik von Hans Peter Duerr. Es gelang Niefanger, eine Typologie der Scham im Simplicissimus herauszuarbeiten, die fünf für die narratio wichtige Aspekte umfasst. Klaus Haberkamm (Münster) konzentrierte sich auf den Kapitalverbrecher Olivier und stellte den „gottlosen Machiavellisten“ als Romanfigur vor, die für sich keinerlei Sühne in Anspruch nimmt. Die Olivier-Episode wurde als Gegenentwurf zu den simplicianischen Bekehrungsgeschichten interpretiert. In seiner anarchischen Lebensweise, in der Normen der christlichen Moral ignoriert werden, erscheint der Misanthrop als abschreckende Kontrastfigur. Dem Thema der Erbsünde und dem Phänomen des Bösen im Werk Grimmelshausens näherte sich Friedrich Gaede (Freiburg) in einem perspektivenreichen Vortrag. Als zentraler Schlüssel der Interpretation erwies sich das Bild des „Binarius“, des teuflischen Spalters. In einen kulturvergleichenden Horizont rückte Tomas Widlok (Köln) den Simplicissimus und ging auf im Roman literarisierte alternative moralische Welten ein. Im Mittelpunkt standen dabei kulturanthropologische und ethnologische Fragen, denen am Beispiel des Afrika-Bildes bei Grimmelshausen und in zeitgenössischen Reiseberichten – nicht zuletzt im Hinblick auf die Problematik von Schuld und Sühne – nachgegangen wurde.

Am zweiten Tagungstag begrüßte Bürgermeister Bernd Siefermann die Tagungsteilnehmer im neuen Erweiterungsbau des Simplicissimus-Hauses in Renchen. Zunächst beleuchtete Bodo Pieroth (Münster) aus juristischer Sicht das Thema Recht im Simplicissimus. Er bot en passant einen aufschlussreichen Einblick in die Literatur als „Bilderbuch des Rechts“ (Bernhard Schlink). Danach ging es in mehreren Vorträgen um theologisch fundierte Perspektiven auf das simplicianische Œuvre. Walter Sparn (Erlangen) steckte den theologischen Rahmen des Umgangs mit Schuld und Sühne im 17. Jahrhundert ab und ging auf Kontroversen um grundlegende Begriffe ein, die auch bei Grimmelshausen eine Rolle spielen (Glaube, Willensfreiheit, Schuld und Gnade). Eine signifikante Beziehung zum Jansenismus stellte er in Frage und wies auf die grundlegende Skepsis Grimmelshausens gegenüber theologischen Positionen hin. Im Werk fände man sowohl katholische als auch protestantische bzw. lutherische Elemente durchaus nebeneinander. Tanja Thanner (Würzburg) skizzierte die Grenzen der sittlichen Befähigung des Menschen und Möglichkeiten der gratia Christi im Augustinus-Kommentar des Cornelius Jansenius, der die Gnadenlehre des Augustinus radikalisiert habe. Für Thanner, die Prinzipien der jansenistischen Frömmigkeit erörterte, blieb offen, wie Grimmelshausen mit derartigen Anschauungen in Berührung gekommen ist, zumal es im 17. Jahrhundert keine Werke von Jansenius in deutscher Übersetzung gab. Beispiele für Schuld und Sühne in der barocken Theologie und im Keuschen Joseph sowie im Simplicissimus bot der Vortrag von Ruprecht Wimmer (Eichstätt). Ausgehend von Jeremias Drexels Joseph Aegypti Prorex descriptus et morali doctrina illustratus (1640, dt. 1662) wurden Gemeinsamkeiten und Differenzen beider Autoren im Hinblick auf das Schuld-Sühne-Konzept beleuchtet. Eric Achermann (Münster) zeichnete Grundzüge des moraltheologischen Diskurses im 17. Jahrhundert nach und wandte sich dann Reue, Buße, Tod und Gnade in Courasche und Vogel-Nest II zu. Unter anderem zeigte sich, dass Grimmelshausen in diesem Kontext Texte von Franz von Sales rezipiert haben dürfte. Buß-Exzesse bei Grimmelshausen und die frühneuzeitliche Verrechtlichung des Gewissens waren Gegenstand des Beitrags von Franz Fromholzer (Augsburg) und Jörg Wesche (Duisburg-Essen), die darlegten, wie das Motiv der Buße immer wieder in ein Spannungsverhältnis zur Satire im Simplicissimus tritt. Peter Klingel (Düsseldorf/Münster) wies auf die spezifische Dialektik von Sünde und Gnade im Vogel-Nest II hin und stellte heraus, dass Grimmelshausen mit von ihm infragegestellten theologischen Positionen in undogmatischer Weise umging. Das Erzählen schuldhafter Verstrickung in die Welt im Zeichen der Neugier und das Movens zur Umkehr im Vogel-Nest waren Thema des Vortrags von Miriam Seidler (Köln/Oppenau). Sie konnte die inhaltliche und erzählstrukturelle Bedeutung der curiositas für Grimmelshausens Roman verdeutlichen. Heiko Ullrich (Bruchsal) stellte in erhellender Weise Konzepte von Reue und Vergebung in Nevilles The Isle of Pines, Grimmelshausens Continuatio und Schnabels Wunderlicher Fata gegenüber.

Der dritte Tag in Oberkirch begann mit einem Vortrag von Kai Bremer (Gießen). Er trug die zentrale Frage nach confessio oder conversio an lyrische Buß-Konzeptionen bei Vetter und Spee heran und warf abschließend einen vergleichenden Blick auf Romane Grimmelshausens, in denen auf der Basis der augustinischen Gnadenlehre Bekehrungskonzepte konstitutiv sind. Maximilian Bergengruen (Karlsruhe) analysierte die satirische Depotenzierung des Faustischen Teufelspakts im Simplicissimus. Dabei erwies sich insbesondere die Schwarzkünstler-Episode mit ihrem ökonomischen Faustbuch-Exkurs in der Perspektivierung von Geld, Schulden und Schuld als essentiell. Den Abschluss der Tagung bildeten vier Vorträge, die das Thema Schuld und Sühne jenseits des simplicianischen Erzählwerks problematisierten. Victoria Gutsche (Erlangen) untersuchte Facetten von Schuld in Harsdörffers Schauplatz-Anthologien. Den Konturierungen von Schuld als Verpflichtung und als Verantwortlichkeit folgten Ausführungen zum Verhältnis von Schuld und Unschuld. Judit M. Ecsedy (Budapest) rekurrierte ebenfalls auf Schuld und Sühne in Harsdörffers Schauplätzen und exemplifizierte die Begriffe im Umgang mit den vom Nürnberger Protestanten verarbeiteten Prätexten von Jean-Pierre Camus, wobei sie die konfessionell bedingten Unterschiede und die vom Rezipienten vorgenommenen Veränderungen darstellte. Mit der Bedeutung von Schuld und Sühne in den Autobiographien von Johann Valentin Andreae und Johann Beer machte Dirk Werle (Heidelberg) vertraut. Es zeigte sich, dass Beers Text nicht wie der Andreaes primär als Rechtfertigungsschrift und autobiographische Lebensbeichte angelegt ist. Wenn es Andreae vor allem darum geht, seine eigene Beständigkeit angesichts der Wechselfälle des Lebens hervorzuheben, so akzentuiert Beer die andere Seite, nämlich die Kontingenz respektive Unvorhersehbarkeit des Lebens selbst und die Notwendigkeit der individuellen Bemühung um Kontingenzabwehr. Im Schlussvortrag stellte Gábor Tüskés (Budapest) Schuld und Sühne in der Confessio peccatoris von Fürst Ferenc Rákóczi II. vor. Für diesen Text erweist sich die Schuldfrage als strukturbestimmend. Für den Jansenisten dient die traditionelle Bekehrungsgeschichte im Spannungsfeld von Schuld, Reue, Umkehr, Buße und göttlicher Gnade als Erzählmodell.

Das vergnügliche Rahmenprogramm der Tagung fand im 2015 eingeweihten Erweiterungsbau des Simplicissimus-Hauses statt. Der in Wien lebende Multi-Instrumentalist Albin Paulus bot einen auf die musikalische Erlebniswelt der Zeit Grimmelshausens abgestimmten Konzertabend unter dem Motto „Simples Traum“. Der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Musikant ließ unter anderem Maultrommeln und alte Instrumente der Hirten, Vaganten und Narren erklingen. Auch auf Sackpfeifen gespielte Lieder gehörten zum Repertoire. Leser des Simplicissimus sind mit diesem volkstümlichen Dudelsack vertraut, wird doch vom Romanprotagonisten berichtet, daß er als zehnjähriger Hirte „ein trefflicher Musicus auff der Sackpfeiffen“ war und schöne Klagegesänge anstimmen konnte. Die zahlreichen Zuhörer ließen sich schnell von der Virtuosität des Musikanten begeistern. Am zweiten Tagungsabend führte Katharina Röther aus Hamburg ein beeindruckendes Theatersolo nach Grimmelshausen auf. Sie stellte ihre Bühnenbearbeitung der Wunderseltzamen Lebensbeschreibung der Courasche vor. Das Publikum dankte für die fulminante Inszenierung mit lang anhaltendem Applaus.

Der traditionelle Abschiedsschmaus im „Silbernen Stern“ zu Gaisbach beendete eine ergebnisreiche Tagung, während der zentrale Fragen zum Themenkreis von Schuld und Sühne in der Literatur der Frühen Neuzeit diskutiert wurden.

Die Tagung wurde finanziell unterstützt von der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e. V. (ALG), den Städten Oberkirch und Renchen, dem Land Baden-Württemberg, vertreten durch das Regierungspräsidium Freiburg, der Franz und Gabriele Hättig-Stiftung sowie der Sparkasse Offenburg/Ortenau.

Peter Heßelmann (Münster)