Die Grimmelshausen-Gesellschaft hat 2008 erstmals einen bundesweiten fachdidaktischen Wettbewerb für Lehrerinnen und Lehrer, Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter, für Studierende, Schülerinnen und Schüler aller Schulformen ausgeschrieben. Im Rahmen dieses Wettbewerbs unter dem Titel „Grimmelshausen und sein Werk im Unterricht“ waren insbesondere fachdidaktische Praxisberichte und produktorientierte Beiträge erwünscht. Der Wettbewerb, der von der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) finanziell unterstützt wurde, hat sich zum Ziel gesetzt, die Kenntnis des Werkes des bedeutendsten deutschen Barockerzählers vor allem im gelebten Alltag von Schule, aber auch in Studienseminar und Hochschule zu befördern und zu stärken.
Am 19. Juni 2009 wurde der Preis an die Theater-AG des Grimmelshausen-Gymnasiums Gelnhausen für das Theaterstück Simplicius Simplicissimus. Ein szenisch-musikalisches Spiel frei nach Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen verliehen.
Hier finden Sie die anlässlich der Preisverleihung gehaltene Laudatio des Präsidenten der Grimmelshausen-Gesellschaft, Erläuterungen zu dem Theaterstück von Paul Ciupka, dem Leiter der Theater-AG, und den Text des Spiels.
In Verbindung mit der Kulturstiftung und dem Magistrat der Barbarossastadt Gelnhausen veranstaltete die Grimmelshausen-Gesellschaft vom 18. bis zum 21. Juni 2009 in der Geburtsstadt Grimmelshausens eine Tagung zum Thema „Erotik und Gewalt im Werk Grimmelshausens und im deutschen Barockroman”.
Nach Grußworten von Thorsten Stolz (Bürgermeister der Stadt Gelnhausen) und Jürgen Michaelis (Vorsitzender der Kulturstiftung der Stadt Gelnhausen) eröffnete Peter Heßelmann (Präsident der Grimmelshausen-Gesellschaft) die Tagung.
Zwei Vorträge von Historikern beleuchteten insbesondere Gewaltphänomene im Werk des simplicianischen Erzählers. Thomas Kossert (Osnabrück/Erfurt) ging der Darstellung von Gewalt bei Grimmelshausen und in Egodokumenten des Dreißigjährigen Krieges nach. Dabei standen die Schilderungen von Gewaltexzessen in historischen Quellentexten und die Kritik an der Gewaltausübung im Mittelpunkt der Analyse. Michael Kaiser (Köln) widmete sich der Frage, inwieweit Frauen als Opfer männlicher Gewalt dargestellt seien und beobachtete Manifestationen von Gewalt und Eros in Grimmelshausens simplicianischen Schriften. „Gewaltspezialistin” sei Corasche, die besonders in ihrer Rolle als Soldatin und Kriegsunternehmerin die Geschlechternormen durchbreche und sexualisierte Gewalt personifiziere. Allerdings sei sie nicht nur als Täterin, sondern auch als Gewaltopfer beschrieben.
Ausgehend von Definitionen des Begriffs „Folter“ in der Frühen Neuzeit widmete sich Rüdiger Zymner (Wuppertal) der Darstellung von Folterung bei Grimmelshausen, die als Medium der Transgression erscheine. Bedeutung und Funktion verschiedener Folterszenen wurden erläutert, wobei Folter – trotz Kritik an ihrer Praxis – eine anthropologische Konstante sei. Matthias Bauer (Flensburg) ging dem Kampf der Geschlechter und der Liebe zur Gerechtigkeit in Grimmelshausens Simplicissimus, Courasche und Springinsfeld nach und erörterte Verkettungen von Sexualität und Aggressivität am Beispiel markanter Romanszenen im Kontext von simulatio und dissimulatio.
Ein bilderreicher Ausflug in die Kunstgeschichte gelang mit dem Abendvortrag von Ulrich Heinen (Wuppertal) unter dem Titel „’Con ogni fervore’” – Erotik und Gewalt bei Peter Paul Rubens”. Venus und Mars konnten bei Rubens als Prinzipien des Imperialen und als Prinzipien der Geschlechterbeziehung dargestellt werden. Darüber hinaus erfuhren Eros und Gewalt – wie am Gemäde „Hero und Leander” (1604–1606) gezeigt wurde – ihre Sublimierung in der Trauer. Schließlich war die Aufhebung von Eros und Gewalt in der stoischen Satire zu betrachten.
Andreas Merzhäuser (London) arbeitete die problematische Verschränkung von Lust und Gewalt in Grimmelshausens „Simplicianischen Schriften” heraus und analysierte den voyeuristischen Blick des Erzählers, der bei seinen Inszenierungen sadistischer Lust mittels verschiedener Strategien zu verhindern habe, daß der gefährliche „Funke” auf den Leser überspringe. Ulrike Zeuch (Wolfenbüttel) stellte auf der Basis des Courasche-Texts die Frage, ob Verführung die wahre Gewalt sei und untersuchte das differenzierte Verhältnis von weiblicher Macht und Ohnmacht im Roman der sich im permanenten Geschlechterkampf befindlichen „Lebenskünstlerin”. Simplicissimi erotische Abenteuer in Paris standen im Zentrum des Vortrags von Jean Schillinger (Nancy). Die in der Stadt der Liebe spielenden erotischen Szenen wurden mit entsprechenden Passagen im Keuschen Joseph verglichen, der in dieser Hinsicht als Prätext zum Simplicissimus Teutsch zu sehen sei. Dirk Niefanger (Erlangen) demonstrierte Erzählweisen der Gewalt im XII. Kapitel von Grimmelshausens Courasche und akzentuierte dabei die Mehrdimensionalität der Figur und die Polyphonie des „modernen“ Erzählexperiments. Im Zuge des gewählten heterodiegetischen Erzählverfahrens sei der traditionelle auktorial-zuverlässige Erzähler geradezu demontiert worden. Eine leitende Fragestellung des Vortrages von Nicola Kaminski (Bochum) war das „gender crossing”. In den Blick gerieten dabei narrative Versuchsanordnungen zwischen Eros und Krieg in Grimmelshausens Courasche und Lohensteins Arminius. Frauen in Männerkleidungen, die in beiden Romanen vorkommen, und Aspekte der Doppelgeschlechtlichkeit wurden gegenübergestellt und in ihrer Bedeutung und Funktion – nicht zuletzt im Hinblick auf politische Utopien – interpretiert.
Das „Lied vom Schrecken” wird in der Courasche nur mit der ersten Zeile zitiert, die aufgrund des von Grimmelshausen implizierten allgemeinen Bekanntheitsgrades des Textes mit dem et-cetera-Zeichen endet. Sibylle Penkert (Berlin) erfaßte davon ausgehend das Vorkommen der Abkürzung im simplicianischen Gesamtwerk statistisch und kam zu einem Katalog der Funktionen der einschlägigen Stellen. Im konkreten Fall verweise das „etc.” auf die Kontrafaktur eines geistlichen Liedes, über das die anagogische Dimension in den Courasche-Roman gelange.
Christine Baro (Bochum) untersuchte die Rezeption antiker Mythen bei Hans Sachs, vor allem den Motivkomplex „Entführung – Vergewaltigung”, und charakterisierte die verschiedenen Moralisierungsstrategien des Autors. Die Wandlungen von „Gewalt und Liebe” vom mittelalterlichen Artusroman über die Volksbücher und Sidneys Arcadia bis hin zu Grimmelshausen verfolgte Rosmarie Zeller (Basel), die die enge Verbindung von Gewaltmomenten mit der Konzeption der männlichen Heldentypen dieser Traditionsreihe herausstellte. Franz Eybl (Wien) analysierte an Hand von Texten Grimmelshausens und Zesens (Joseph, Assenat) sowie Beers (Winternächte, Jungfernhobel) verschieden Kommunikationstypen der Bereiche Gewalt und Erotik vor dem medizinhistorischen Hintergrund der Humoralpathologie (Säftelehre). Den weiten Bogen von Grimmelshausen zum Marquis de Sade spannte Gislinde Seybert (Hannover) und stellte dabei die jeweiligen Motivverbindungen von Sexualität und Folter einander gegenüber.
Klaus Haberkamm (Münster) zeigte an der Lisille (1663) von Johann Thomas, wie ein Schäferroman gängige Erwartungshaltungen täuscht, indem er gegen die landläufigen Gattungsnormen Konflikte abbildet und kritisiert, die nur für die zurückliegende Kriegsphase typisch zu sein scheinen. Den demonstrativ misogynen Roman Betrogener Frontalbo (1670) von Johann Gorgias präsentierte Hans-Joachim Jakob (Siegen) und stellte dessen augenscheinliches Plädoyer für die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung männlicher Dominanz in den Kontext vergleichbarer zeitgenössischer Texte (u. a. von Schupp, Kindermann, Rachel, Logau). Er diskutierte darüber hinaus die Verwandtschaft des Frontalbo mit Mustern der Exempelliteratur.
Dieter Martin (Freiburg) stellte die differierenden Relationen von „Eros” und „Heros” in Ziglers Asiatischer Banise dar und untersuchte die kontrastiven Muster, wie sie vor allem in den beiden Paaren Chaumigrem – Higvanama und Baiacin – Banise Kontur gewinnen. Gesa Dane (Göttingen) verglich die verschiedenen Ausformungen der mythologischen Folie von Frauenraub und Vergewaltigung in Grimmelshausens Courasche und Ziglers Asiatischer Banise. Ihr Augenmerk galt vor allem den darin zum Ausdruck kommenden Differenzen des männlichen und des weiblichen Ehrbegriffs. Misia Doms (Saarbrücken) analysierte auf der Grundlage der Palmeninsel-Episode Grimmelshausens und dem frühaufklärerischen Insel Felsenburg-Roman Schnabels, der auch als „hyperbolische Amplifikation“ barocker Motivwelten gesehen werden kann, verschiedene Varianten des Komplexes „Liebende Natur und Naturgewalt”, besonders im Hinblick auf das allgegenwärtige Providenz-Muster.
Die Tagung zeichnete sich auch durch ein umfangreiches Rahmenprogramm aus, das bei den Teilnehmern großen Anklang fand und in Erinnerung bleiben wird. Auf der Stadtführung am 18. Juni 2009 wurden Sehenswürdigkeiten der Barbarossastadt Gelnhausen vorgestellt; der Abendspaziergang zum Hexenturm mit Empfang bot bei Sonnenuntergang einen herrlichen Ausblick auf Gelnhausen und das Kinzigtal. Jutta Seifert präsentierte das fulminante Theaterstück „Courasche” am 19. Juni 2009 in der ausverkauften ehemaligen Synagoge. Das Publikum dankte ihr mit starkem Applaus für eine hinreißende Solo-Inszenierung. Der Abend des 20. Juni 2009 stand im Zeichen einer unvergeßlichen barocken Gelnhäuser Gasterey im Gewölbekeller des Grimmelshausen-Hotels. Alle Teilnehmer genossen ein mehrgängiges köstliches Menu nach historischen Rezepten und ein höchst amüsantes Rahmenprogrammm, das mit manchen Überraschungen glänzte. Am letzten Veranstaltungstag zeigte eine Ausstellung Drucke der Frühen Neuzeit im Museum der Stadt Gelnhausen. Es waren unter anderem mehrere wertvolle Texte Grimmelshausens zu sehen, darunter Erstausgaben.
Den von der Grimmelshausen-Gesellschaft ausgeschriebenen fachdidaktischen Wettbewerb gewann die Theater-AG des Grimmelshausen-Gymnasiums Gelnhausen für die Aufführung des Theaterstücks Simplicius Simplicissimus. Ein szenisch-musikalisches Spiel frei nach Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Den Geldpreis in Höhe von € 300,00 und eine Urkunde nahmen Herr OStD Friedrich Bell (Schulleiter) und Herr OStR Paul Ciupka (Leiter der Theater-AG) in Anwesenheit von zahlreichen Lehrern, Schülern und Vertretern der Presse entgegen.
Die abwechslungs- und ergebnisreiche Tagung war geprägt durch eine freundliche und konstruktive Diskussionskultur. Die Veranstaltungen wurden gefördert durch die Kulturstiftung der Barbarossastadt Gelnhausen.
Die Vorträge werden in den „Simpliciana – Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft” XXXI (2009) veröffentlicht.
Peter Heßelmann / Ruprecht Wimmer
Die Grimmelshausen-Gesellschaft veranstaltete vom 20. bis zum 22. März 2009 in Oberkirch ein Arbeitsgespräch zum Thema „Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur”. Davor hatte sich die Grimmelshausen-Gesellschaft zuletzt 1994 im Rahmen eines Kolloquiums mit Grimmelshausen als Kalenderautor befaßt und die Beiträge in Simpliciana XVI (1994) publiziert. Damals stand sein Ewig-währender Calender im Mittelpunkt.
Anlaß für die erneute Beschäftigung mit der simplicianischen Kalenderproduktion ist ein Kalenderfund von Klaus-Dieter Herbst (Jena) im Stadtarchiv Altenburg. Dort entdeckte er den bisher verschollenen 1. Jahrgang des Europäischen Wundergeschichten-Calenders auf 1670 (vgl. Klaus-Dieter Herbst: Der Kalenderschatz im Stadtarchiv Altenburg. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 9, 2007, S. 211–239). Zusammen mit Klaus Matthäus (Erlangen) hat er im Januar 2009 die kommentierte Faksimile-Edition der ersten drei Jahrgänge des Europäischen Wundergeschichten-Calenders (1670–1672) veröffentlicht. Die Verfasserfrage und Beteiligung Grimmelshausens an den im Verlag Felßecker erschienenen Calendern werden auf der Grundlage der Entdeckung künftig noch intensiv zu erörtern sein. Damit steht auch die Echtheit der drei kleinen Calender-Continuationen wiederholt zur Diskussion. Zur orientierenden Einführung in die Fragen, die sich um die Authentizität des Europäischen Wundergeschichten-Calenders ranken, ist auf den Überblick von Jörg Jochen Berns zu verweisen (Kalenderprobleme der Grimmelshausen-Forschung. In: Simpliciana XVI, 1994, S. 15–32, mit Literaturhinweisen zum Themenkomplex).
Darüber hinaus hat Klaus-Dieter Herbst einen anderen unbekannten simplicianischen Kalender mit der Angabe des elsässischen Druckorts Molsheim gefunden (3. Jg. 1675): Deß jungen ehelich gebohrnen Simplicissimi Neu und alter Schreib-Kalender (Molsheim 1675). Dieser in Molsheim von Johann Heinrich Straubhaar seit 1673 gedruckte Kalender enthält im Kalendarium die Textspalte „Fernere Continuation, Deren 1673. angefangenen Simplicianischen Erzehlung“ und im zweiten Teil „Simplicianische Historien vom alten Simplicissimo“. Auch dieser Kalender wurde inzwischen in der genannten Edition von Herbst und Matthäus als Faksimile veröffentlicht und kommentiert.
Um Grimmelshausens Bedeutung und Position als Kalenderautor angemessen beurteilen zu können, war es sinnvoll, den Kontext der zeitgenössischen Kalenderproduktion vergleichend zu berücksichtigen. Ältere Forschungsergebnisse wurden kritisch geprüft und in Anbetracht neuerer Forschungen aktualisiert. Nicht zuletzt konnten neue Perspektiven und Arbeitsfelder der Kalender- und Grimmelshausenforschung eröffnet und Desiderate benannt werden. Das vom Präsidenten der Grimmelshausen-Gesellschaft vorbereitete und geleitetete Kolloquium „Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur” widmete sich unter anderem folgenden Themenaspekten: Beteiligung und Mitarbeit Grimmelshausens an den simplicianischen Jahreskalendern, Authentizität und Autorisation in der zeitgenössischen Kalenderproduktion, mediengeschichtliche Rahmenbedingungen der Kalenderherstellung, -distribution und -rezeption, Literarizität der Textsorte Kalender, Textformen des Kalendergesprächs und der Kalendererzählung, Integration von literarischen, historischen und naturwissenschaftlichen Quellen, Ewigwährende Kalender in der Frühen Neuzeit, Manifestationen satirischer Kalender- und Astrologiekritik.Die interdisziplinär ausgerichete Konzeption des Kolloquiums erwies sich im Hinblick auf die Diskussion und die erzielten Ergebnisse als sehr fruchtbar. Es nahmen nicht nur kalenderkundige Literaturwissenschaftler teil, sondern auch Medienwissenschaftler und -historiker, Historiker sowie Naturwissenschaftler verschiedener Disziplinen – aus Physik, Astrophysik, Astronomie und Mathematik.
Holger Bönig (Bremen) eröffnete den Vortragsreigen mit einem konzisen Überblick über die Bedeutung und Funktion von Kalendern im Mediensystem des 17. Jahrhunderts. Damit war nicht nur der gattungstheoretische und -geschichtliche Rahmen für die weiteren Referate abgesteckt. Auch die im Vortrag angeschnittenen Fragen zur Produktion und Rezeption des Bestseller-Mediums Kalender sollten im Verlauf der Tagung noch mehrfach aufgegriffen werden. Klaus-Dieter Herbst (Jena) stellte auf der Grundlage seiner Entdeckung des Kalenderschatzes in Altenburg Schreibkalender für das Jahr 1670 vor. Die in Altenburg vorhandene, noch auszuwertende Masse an Kalendern mit einer Vielzahl an bisher unbekannten Drucken mache – so das Fazit Herbsts – eine Revision der Gattung Kalender notwendig. Es zeichne sich bereits jetzt ab, daß die Gattungsgeschichte und -theorie in Teilen neu zu schreiben sein werden.
Ins Zentrum des Arbeitsgesprächs rückten dann die ersten Jahrgänge des Europäischen Wundergeschichten-Calenders (1670–1675), Deß jungen ehelich gebohrnen Simplicissimi Neu und alter Schreib-Kalender (1675) und Grimmelshausens Ewig-währender Calender (1670). Timothy Sodmann (Südlohn) führte mit seinem Vortrag in den Stand der Forschung zum Europäischen Wundergeschichten-Calender ein, wobei er auch zukünftige Arbeitsfelder und -aufgaben skizzierte. Insbesondere Fragen der Authentizität und Autorisation der simplicianischen Jahreskalender seien, so Sodmanns Postulat, nochmals aufzugreifen. Indizien für die „Echtheit” und „Unechtheit” zusammenstellend, wurde angeregt, auf der Basis der nun entdeckten Jahrgänge des Europäischen Wundergeschichten-Calenders und der bereits vorliegenden Quellenforschung zu den Kalendern die Quellenfrage zu reaktivieren und mithilfe eines zu erstellenden Wortindex oder Wörterbuchs zu Grimmelshausens Werk die Frage der Echtheit abermals anzugehen.
Klaus Matthäus (Erlangen) stellte zwei für die Grimmelshausenforschung wichtige Entdeckungen vor: den Europäischen Wundergeschichten-Calender auf 1670 und Deß jungen ehelich gebohrnen Simplicissimi Neu und alter Schreib-Kalender (1675). Ausgehend von zahlreichen Beobachtungen an den Kalenderdrucken, den darin veröffentlichten Texten und der Kalenderikonographie samt Titelkupfer gelangte Matthäus zu dem Schluß, daß sowohl die ersten drei Jahrgänge des Europäischen Wundergeschichten-Calenders als auch Deß jungen ehelich gebohrnen Simplicissimi Neu und alter Schreib-Kalender zumindest in weiten Teilen von Grimmelshausen stammen. Ergänzend zum Referat von Matthäus präsentierte Louis Schlaefli (Straßburg) seine Forschungen zum Druckort Molsheim und zum Drucker Johann Heinrich Straubhaar. Schlaefli konnte durch Berücksichtigung bisher nicht ausgeschöpfter Quellen neue Einsichten in die regionale Druckergeschichte des Straßburger Raumes vorstellen. Insbesondere die Beziehungen Straubhaars zu Grimmelshauens Verleger Dollhopf in Straßburg und nachweisbare personelle Verbindungen zwischen Molsheim, Straßburg und Renchen in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts bedürfen vertiefender lokal- und regionalhistorischer Studien.
Dieter Breuer (Aachen) setzte sich mit dem Problem der Authentizität der ersten drei Jahrgänge des Europäischen Wundergeschichten-Calenders und des dritten Jahrgangs von Deß jungen ehelich gebohrnen Simplicissimi Neu und alter Schreib-Kalenders auseinander. Während er die Autorschaft Grimmelshauens an den simplicianischen Jahreskalendern ablehnte, gelangte er beim Molsheimer Kalender auf der Basis einer Fülle an erläuterten Indizien zu einem anderen Resultat. Die Erzählungen in Deß jungen ehelich gebohrnen Simplicissimi Neu und alter Schreib-Kalender seien ebenso wie ein politisches Gedicht mit sozialkritischen Dimensionen – so Breuer – sehr wahrscheinlich von Grimmelshausen verfaßt. Die angehängte „Relation” stamme hingegen nicht vom simplicianischen Autor.
Norbert Wernicke (Zürich) bot einen Einblick in die Schweizer Kalenderlandschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einem Seitenblick auf den Europäischen Wundergeschichten-Calender. Mehrere in der Schweiz erschienene Jahreskalender wurden mit ihren Spezifika vorgestellt und Quellenfragen erörtert. Auf Grimmelshausens Ewig-währenden Calender und auf Eucharius Rößlins erstmals 1533 publizierten Kalender mit allen Astronomischen haltungen konzentrierte sich Klaus Haberkamm (Münster) in seinem Vortrag zur Gattung der immergültigen Kalender in der Frühen Neuzeit. In Vergleichen konnte er die Einzigartigkeit des Ewig-währenden Calenders von Grimmelshausen, die nicht zuletzt in der hohen literarischen Qualität der Texte und der gelungenen Integration von Literatur gründet, herausstellen. Der Ewig-währende Calender sei unter anderem ein Lehrbuch auf astrologischer Basis, in dem satirische Spitzen keineswegs auf die Gattung des immergültigen Kalenders zielten, sondern allein auf einige zeitgenössische Jahreskalender.
Norddeutsche Schreibkalender um 1700 waren Gegenstand des Referats von Jürgen Hamel (Stralsund), der vornehmlich die Region Mecklenburg behandelte und die Bedeutung eines Kalenderedikts des Herzogs von Mecklenburg-Güstrow aus dem Jahr 1682 erörterte. Das Edikt richtete sich gegen die Verbeitung des Aberglaubens in zahlreichen Kalendern und führte hier und da tatsächlich zu einem Verzicht auf abergläubische und astrologische Passagen. Helga Meise (Reims) beschäftigte sich mit Textformen und Literarizität in Marx Friedrich Rosencreutzers Neuem Wurtz und Kräuter-Calender (1649–1680). Sie stellte den Autor vor und verfolgte Stukturveränderungen in dem über drei Jahrzehnte lang erschienenen, sehr erfolgreichen Arznei-Kalender. Diese Kalenderserie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Intertextualität aus, wobei die verarbeiteten Quellentexte häufig genannt werden. Ein Charakteristikum Rosencreutzers ist es, daß er seine zum Teil fiktiven „Historien” explizit mit astrologisch relevanten Hinweisen zur Rezeptionssteuerung versah, etwa mit der Bemerkung, die folgende Erzählung sei mit seinen spezifischen Inhalten und Motiven ein „saturnischer”, „lunarer” oder „jovialischer” Text. Damit stellte der Autor seine „Historien” ausdrücklich unter den Einfluß der chaldäischen Planetenreihe.
Rosmarie Zeller (Basel) untersuchte historische und literarische Texte in Nürnberger Kalendern der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie machte mit der Konzeption und Struktur sowie mit dem Inhalt verschiedener Schreibkalender – etwa von Marcus Freund – bekannt. Es zeigte sich, daß Werke von Martin Zeiller und Georg Philipp Harsdörffer besonders oft als Quellen für die Kalendergeschichten genutzt wurden, die zumeist auf historische Ereignisse rekurrierten. Den Vortragsreigen beendete Hans Gaab (Fürth) mit einer Darstellung über den zwielichtigen Kalenderautor Israel Hiebner (1619–1668) und seine anhaltenden Streitigkeiten mit namhaften Kalenderschreiberkollegen. Damit gelang es Gaab nicht nur, das Leben und Werk Hiebners zu würdigen, sondern darüber hinaus ein amüsantes Schlaglicht auf die Kalenderschreiber-Szene des 17. Jahrhunderts zu werfen.
In der Abschlußdiskussion wurden künftige Arbeitsbereiche bei der Erforschung der Kalender in der Frühen Neuzeit und bei Grimmelshausen umrissen. Unter anderem ergaben sich folgende, hier nur stichwortartig wiedergegebene Themenfelder: Auswertung der Kalendersammlung in Altenburg, Auswertung des Kalenderarchivs des Verlages Endter in Krakau, bibliographische Erfassung und Auswertung immergültiger Kalender der Frühen Neuzeit, Aufarbeitung der Kalenderproduktion in deutschsprachigen Regionen und Orten (Deutschland, Österreich, Schweiz), Klärung des Verhältnisses von Kalender und Konfession, Studien zum Selbstverständnis der Kalenderautoren, Untersuchungen zu den Lesern der Kalender im 17. Jahrhundert, Recherchen zum Verhältnis der politischen und kirchlichen Obrigkeit zum Kalenderwesen, Entwicklung von Kriterien zur Bestimmung der „Echtheit” und „Unechtheit” von Texten, Erstellung eines Grimmelshausen-Wortindex oder eines Grimmelshausen-Wörterbuchs, Ermittlungen zum Drucker Straubhaar in Molsheim und zu den anderen Druckern und Verlegern Grimmelshausens.
In den Vorträgen des Kolloqiums wurden zahlreiche neue Ergebnisse in der Erforschung der Kalender der Frühen Neuzeit erzielt. Auch für die Grimmelshausenforschung gab es reiche Erträge. Wenn sich die insbesondere von Klaus Matthäus und Dieter Breuer vorgetragenen Argumente zur Echtheit von Deß jungen ehelich gebohrnen Simplicissimi Neu und alter Schreib-Kalender bestätigen, dann dürften die Teilnehmer des Arbeitsgesprächs am 21. März 2009 eine historische Stunde für die Grimmelshausenforschung erlebt haben, denn mit dem Molsheimer Jahreskalender lägen nun bisher unbekannte Texte Grimmelshausens vor. Die „Echtheit” oder „Unechtheit” der ersten Jahrgänge des Europäischen Wundergeschichten-Calenders wird nochmals zu diskutieren sein.
Das Kolloquium, das sich durch eine freundliche, diskussionsfreudige und konstruktive Atmosphäre auszeichnete, wurde gefördert durch die Stadt Oberkirch, die Stadt Renchen und die Sparkasse Oberkirch/Ortenau.
Die zwölf Vorträge werden als Beiheft zu „Simpliciana – Schriften der Grimmelshausen-Gesellschaft” veröffentlicht: Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur. Hrsg. von Peter Heßelmann. Bern, Berlin, Brüssel, Frankfurt a. M., New York, Oxford, Wien: Peter Lang 2010 (Beihefte zu Simpliciana).
Peter Heßelmann