Johann Jakob Christoph von Grimmelshausen
Gesellschaft e.V.

Die Grimmelshausen-Gesellschaft im Jahr 2024

Bericht über die Tagung
„Dinge bei Grimmelshausen und
in der Literatur der Frühen Neuzeit“,
20.–22. Juni 2024 in Göttingen

 


Nach einem Grußwort von Peter Heßelmann, Präsident der Grimmelshausen-Gesellschaft (Münster) führte Jörg Wesche (Göttingen), Organisator der Tagung, in das Tagungsthema „Dinge bei Grimmelshausen und in der Literatur der Frühen Neuzeit“ ein. Den ersten Vortrag hielt Ludger Jorißen (Wiesbaden), der sich der Darstellung von realen Dingen im Werk des niederländischen Arztes und Linguisten Johannes Goropius Becanus (1519–1572) widmete. Jörg Holzmann (Bern) setzte sich mit Erwähnungen von Musikinstrumenten und ihren Konnotationen in frühneuzeitlichen Romanen auseinander. Ausgehend von Abbildungen in der Malerei und Graphik sowie in Figurengedichten des 16. und 17. Jahrhunderts ging er deren Bedeutungen in Texten von Grimmelshausen, Johann Beer, Johann Kuhnau, Wolfgang Caspar Printz und Daniel Speer nach. Im Mittelpunkt der Ausführungen von Johanna Wildenauer (Halle) standen Gestaltungsmodi und Funktionen textiler Dingerzählungen im 18. Jahrhundert. Sie stellte eine Fülle an It-Narratives vor, in denen Kleidungsstücke sprechen, beispielsweise über ihr ,Leben‘ berichten und nicht selten in voyeuristischer Manier Einblicke in Intimitäten der Garderobenträgerinnen und -träger bieten. Dieter Martin (Freiburg) analysierte die Materialität frühneuzeitlicher Manuskriptfiktionen und ihre Positionen zwischen Authentizitätsbeteuerung und Romanpoetik. Dabei konnte er an verschiedenen Texten –Faustbuch, Grimmelshausens Continuatio und Schnabels Insel Felsenburg – Gemeinsamkeiten und Differenzen herausarbeiten. Verdinglichungsstrategien als Modell satirischen Strafens verdeutlichte Maximilian Bergengruen (Würzburg) anhand des Courasche-Romans. Eric Achermann (Münster) befasste sich mit Sinn und Tauschkraft von Marktartikeln bei Grimmelshausen. Aspekte von Markt und Bühne, von Gaukeltasche, Requisitenkiste und Spielkarten wurden unter Einbeziehung von bildlichen und textlichen Quellen erhellt.

Den zweiten Tagungstag eröffnete Thomas Borgstedt (München) mit einem Vortrag, in dem er sich dinghaften Artefakten im Werk Grimmelshausens zuwandte: den im Simplicissimus-Titelkupfer abgebildeten Dingen, dem vom Protagonisten genutzten Perspektiv und Hörrohr, dem Schmermesser, dem Lebensbuch des Insulaners in der Continuatio sowie dem Vogelnest in den gleichnamigen Romanen. Herausgestellt wurde die Relevanz der genannten Dinge als ambivalente Bedeutungsträger im Hinblick auf ihre spezifischen Kontexte. Dieter Breuer (Aachen) zeigte am Motiv des hohlen Baums mit Beispielen aus der Kunst und Literatur, dass Bäume häufig als Fluchtort für Menschen dienten und verschiedene Bedeutungen und Funktionen haben konnten. Grundsätzlich gibt es polare Semantiken: der hohle Baum als Schutzraum und Refugium inmitten einer unsicheren, angstbesetzten Wildnis, als Ort naturmagischer Öffnung zu einer jenseitigen Welt der Naturgeister, Dämonen und höllischen Geister, aber auch als heiliger Orakelort, in dem Naturgeister hausen und Menschen helfen. In christlicher Zeit kann er das Heim von büßenden Eremiten sein, nach deren Tod der hohle Baum zum Wallfahrtsort mit Wunderheilungen werden kann. Bei Grimmelshausen diene – so Breuer – der hohle Baum zwar auch als Schutzraum, doch seine heidnisch-naturmagische Dimension als dämonische Stätte und als Tor zur Hölle werde ironisch-satirisch hinterfragt und als betrügerischer „Wahn“, als Aberglauben kritisiert. Mehrere Vortragende führten aus, dass insbesondere ,seltsame‘ Dinge im Werk Grimmelshausens poetologisch orientierte Lektüren provozieren. Nicola Kaminski (Bochum) ging der Frage nach, wie die vom Jäger von Soest erfundenen trickreichen Schuhe und der Schuhwechsel dem simplicianischen Autor auf die narratologisch bedeutsame Spur zu kommen helfen. Simplicissimus operiere als virtuoso avant la lettre und arbeite damit der Unterminierung moralisch fundierter virtus zu. Zugleich diagnostizierte Kaminski hier eine für Grimmelshausens Romansatire charakteristische Ambiguisierung von vermeintlich Einsinnigem. Dirk Niefanger (Erlangen) konturierte Elemente einer Poetik der Dinge im Simplicissimus und interpretierte überzuckerte Pillen, den Theriak des Quacksalbers und das eine argute Rhetorik bezeichnende Schermesser als It-Narrativ sowie den Trunkenheit und Halluzinationen verursachenden Palmwein. Dinge dienen – so legte Niefanger dar – nicht nur als Requisiten der Romanhandlung und der Kennzeichnung ihrer Figuren, sondern auch als Metaphern des Erzählens, als Markierungen von Positionen und vor allem Intertexten, die selbst poetologische Reflexionen plausibilisieren, und von intratextuellen Vernetzungen, die eine plurale Poetik evident werden lassen. So scheine zu Beginn der Continuatio mit den überzuckerten Pillen bzw. der Hülse-Kern-Metapher eine poetologische Methode vorgestellt zu werden, die klare theologische und pädagogische Intentionen impliziert. Durch intratextuelle Verweise auf Dinge (Theriak, Kernfrüchte, Hanfsamen) werde dieses Verfahren aber im Roman relativiert bzw. dekonstruiert. Hartmut Bleumer (Göttingen) deutete mehrere Episoden im Simplicissimus als „Gedächtnistheater“ und theatrale Inszenierungen und verstand seine Überlegungen zu „dramatischen Dingen“ als Versuch zu Zeit und Objekt im Roman. Die Darstellung der Macht der Dinge und ihrer Überwindung in der Continuatio waren das Thema von Hans-Joachim Jakob (Siegen). Dabei gerieten Geld, Gebrauchs- und Luxusgegenstände, Waffen, weitere allegorisch aufzufassende Requisiten sowie religiöse Konnotationen der Dinge in den Blick. Zum Rahmenprogramm gehörte ein anschließender Besuch der Göttinger Universitätssammlungen im Forum Wissen. Den Abendvortrag in der Paulinerkirche hielt Julia Schmidt-Funke (Leipzig), die die in Grimmelshausens Lebensumgebung vorhandene reale Dingwelt vor dem Hintergrund der materiellen Kultur und des Konsums im 17. Jahrhundert beleuchtete.
Der dritte Tag des Symposiums begann mit einem von Klaus Haberkamm (Münster) erarbeiteten Vortrag, der aufgrund einer Erkrankung des Verfassers von Peter Heßelmann verlesen wurde. Dargestellt und erläutert wurden die Funktionen astrologisch konnotierter Schwerter im Simplicissimus. Levy da Costa Bastos (Rio de Janeiro) referierte über die Verdinglichung menschlicher Beziehungen in der frühkapitalistisch dominierten Warenwelt des Dreißigjährigen Krieges, die ein mundus perversus sei. Den Schwerpunkt bildeten Darlegungen zu Ausprägungen des Fetischismus im Roman der Courasche. Der von ihr erworbene spiritus familiaris sei als Fetisch aufzufassen, wobei das teuflische Objekt seine magisch-kulturelle Bedeutung verliere und in den Kontext sozialer Beziehungen zu stellen sei. Grimmelshausen erweise sich als Wirtschafts- und Sozialkritiker, der eindringlich zeige, wie der Spiritus familiaris diejenigen verführe, die ihn kaufen. Seine bezaubernde Kraft ziehe jedoch unweigerlich Tod und ewige Verdammnis nach sich. Der Markt fungiere als tödliche Kraft, die alles und jeden verzaubere und Menschen entmenschliche. Die Performanz einer Vermittlungssituation untersuchte Monika Preuss (Dortmund), die Simplicissimi wundersame Gaukel-Tasche zum Bezugspunkt ihres Vortrags machte und sie in die literarische Tradition der Kartenlosbücher rückte. Stephan Kraft (Würzburg) sondierte die Poetik der It-Narratives am Beispiel der semantisch komplexen Schermesser-Episode und entfaltete dort aufgeworfene Problematiken wie die Ich-Kontinuität und die Logik der Verwandlung, Momente dinglichen Handelns und alternative Lebensmodelle, die Relation von Verdienst, Schuld und Beseeltheit.
Peter Heßelmann (Münster)